Schornstein Nr. 4
Seit Romy Schneider durch ihren Umzug nach Frankreich
auch räumlich Distanz zu ihrem durch die „Sissi“-Filme erhärteten Backfisch-Image
zu gewinnen versuchte, hat sie in einer Reihe von Filmen mitgewirkt, an die man
sich kaum noch erinnert, abgesehen von der hochkarätig besetzten Kafka-Adaption
„Der Prozess“ (1962) durch Orson Welles und Henri-Georges
Clouzots unvollendetes Drama „Die Hölle“ (1964). Für Jean Chapots
Regiedebüt „Schornstein Nr. 4“ kehrte Romy Schneider allerdings
wieder nach Deutschland zurück und stand hier erstmals mit Michel Piccoli
gemeinsam vor der Kamera.
Inhalt:
Die Ehe von Julia (Romy Schneider) und Werner Kreuz (Michel
Piccoli), die in West-Berlin in einem Hochhaus leben, ist bislang kinderlos
geblieben. Nachdem sie vor einigen Wochen glaubte, schwanger zu sein, gesteht
Julia ihrem Mann, dass sie bereits im Alter von 19 Jahren ein Kind zur Welt
gebracht und nach wenigen Tagen weggegeben habe. Wie sich Julia bei einem
heimlichen Besuch vergewissern konnte, wurde der Junge, Carlo (Mario Huth),
von der Familie Kostrowicz aufgenommen und liebevoll wie ein leiblicher Sohn
großgezogen. Radek Kostrowicz (Hans Christian Blech), ein Arbeiter im
Walzwerk, und seine Frau (Sonja Schwarz) leben in Oberhausen. Plötzlich
von einer starken Sehnsucht nach ihrem Kind ergriffen, reist Julia Kreuz immer
wieder nach Oberhausen und schleicht um Schule und Wohnung des Jungen.
Ihr Mann
versucht, sie von diesen Ausflügen abzubringen, greift sie am Bahnhof ab,
sperrt sie ein, aber ohne Wirkung. Lieber hätte er ein eigenes Kind mit ihr, aber
Julia hat sich bereits völlig von ihrem Mann entfremdet. Zwar ist das Gesetz
auf Julias Seite, da es nie eine formelle Adoption gegeben hat, doch Kostrowicz
setzt alles in Gang, um Carlo weiterhin im gewohnten Umfeld aufwachsen zu
lassen. Julia nutzt einen Aufenthalt im Schwimmbad, um Carlo von dort aus mit
in die Berliner Wohnung zu nehmen, doch taucht dort wenig später der aufgebrachte
Stahlarbeiter auf und nimmt Carlo wieder mit sich.
Als Kostrowicz bei seiner Ankunft am Bahnhof in Essen von
der Polizei empfangen und das Kind Julia und Werner übergeben wird, klettert er
auf den Schornstein Nr. 4 der Hüttenwerke Oberhausen. Das Handeln des
verzweifelten Ziehvaters erregt in der Öffentlichkeit, die sich weitgehend auf
seine Seite schlägt, großes Aufsehen. Er droht damit, in die Tiefe zu springen,
falls ihm Carlo nicht bis nächsten Morgen um sechs Uhr zurückgegeben wird…
Kritik:
Eigentlich war „La voleuse“, so der Originaltitel,
mehr auf die Geschichte des Ziehvaters ausgerichtet, doch als Romy Schneider
das Drehbuch las und so begeistert von dieser Traumrolle war, bei der sie die
ganze Gefühlspalette einer jungen Frau zeigen konnte, verlagerte sich der Fokus
mehr auf ihre Figur. Der Film erzählt nicht nur die Geschichte eines Kampfes um
das Sorgerecht für ein Kind, das die Mutter vor sechs Jahren weggegeben hatte,
weil sie damals nichts mit ihm anfangen konnte, sondern auch um die Entfremdung
zweier Menschen, die durch diesen Kampf einander völlig aus den Augen verlieren.
Die kontrastreichen Schwarzweißbilder von Jean Penzer („Hetzjagd“, „Der
alte Mann und das Kind“) bringen die Gefühlskälte, aber auch die triste Industrielandschaft
in Essen und Oberhausen perfekt zum Ausdruck. Bereits der Vorspann deutet an,
dass sich alles um Julia dreht, die keinen Deut von ihren zunehmend
wahnwitzigen Vorstellungen abzurücken bereit ist, die ohne Rücksicht auf
Verluste ihr eigenes Wohl über das ihres Mannes und des Kindes stellt. Tatsächlich
darf Romy Schneider das ganze Spektrum ihrer Schauspielkunst präsentieren,
darf wehmütig, traurig, wütend und kämpferisch sein. Da bleibt für Piccoli,
mit dem sie später u.a. noch „Die Dinge des Lebens“, „Das Mädchen und der
Kommissar“ und „Mado“ realisierte, wenig Raum zum Glänzen. Seiner
Figur gelingt es kaum, das Abdriften seiner Frau zu verhindern, ihr immer
wieder Grenzen aufzuzeigen, die sie doch wieder durchbricht.
Weitaus
eindrucksvoller ist die Darstellung von Hans Christian Blech („Morituri“,
„Der längste Tag“) als ebenso verzweifelt wie vergeblich kämpfender
Ziehvater des kleinen Carlo, dem er stets ein fürsorglicher Vater gewesen ist. Man
merkt dem Drama an, dass es mit kleinem Budget realisiert worden ist, aber das
gesellschaftlich heikle Thema um Elternschaft und die herausragenden
Darstellungen machen Jean Chapots („Die Löwin und ihr Jäger“) Regiedebüt
absolut sehenswert.
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