May December
Todd Haynes („Carol“, „Mildred Pierce“, „Wonderstruck“)
ist ein Meister der leisen Töne. In vielen seiner Dramen stehen
außergewöhnliche Frauenfiguren im Vordergrund, wie in „Dem Himmel so fern“
(2002), einer seiner sechs Kollaborationen mit Julianne Moore. Mit ihr
in der Hauptrolle setzte Haynes auch das auf wahren Begebenheiten beruhende
Drama „May December“ um, in dem Moore mit Natalie Portman
eine kongeniale Mitstreiterin zur Seite gestellt bekommt.
Inhalt:
Die Schauspielerin Elizabeth Berry (Natalie Portman) reist
nach Savannah, Georgia, um Recherchen für ihre nächste Rolle anzustellen. In
einem Independent-Film soll sie Gracie Atherton-Yoo (Julianne Moore)
darstellen, die vor 23 Jahren als Angestellte in einem Zoogeschäft eine
Beziehung mit dem damals gerade mal dreizehnjährigen Joe begonnen hatte, was
nicht nur für einen heftigen Skandal sorgte, sondern Gracie auch eine Gefängnisstrafe
einbrachte. Dass sie im Gefängnis auch noch ein Kind von Joe zur Welt brachte,
sorgte für zusätzlichen Stoff in der Regenbogenpresse.
Beim Grillen mit der Familie lernt Elizabeth zunächst Joe (Charles
Melton) und die Kinder von Gracie kennen lernt: Mary (Elizabeth Yu) und
Charlie (Gabriel Chung) stehen kurz vor ihrem High-School-Abschluss und
leben noch zu Hause. In den nächsten Tagen trifft sich die Schauspielerin mit
weiteren Schlüsselfiguren in Gracies Leben. Während Gracies Ex-Mann Tom (D.W.
Moffett) ohne großen Groll auf die Beziehung zurückzublicken und sein Glück
mit einer neuen Familie gefunden zu haben scheint, erwähnt Gracies damaliger
Anwalt, dass Gracie während des Prozesses damals sehr naiv wirkte und sich
keiner Schuld bewusst gewesen sei. Mittlerweile versuche die Stadt, Gracie
beschäftigt zu halten, weshalb sie vor allem Blaubeerkuchen backt und
Blumengestecke kreiert. Während des Gesprächs mit dem Anwalt lernt Elizabeth
auch Gracies ersten Sohn Georgie (Cory Michael Smith) kennen, der in der
damals in der gleichen Klasse wie Joe gewesen war und trotz gegenteiliger
Beteuerungen psychisch labil wirkt. Je mehr Elizabeth Einblick hinter die
oberflächliche Fassade einer großen glücklichen Familie blickt, umso mehr droht
sie die Distanz zu den Atherton-Yoos zu verlieren…
Kritik:
Todd Haynes hat mit „May December“ (der Titel
leitet sich von der umgangssprachlichen englischen Bezeichnung für Altersunterschiede
in Partnerschaften ab) die Geschichte von Mary Kay LeTourneau verfilmt,
einer verheirateten Grundschullehrerin und Mutter von vier Kindern aus Seattle,
die 1996 im Alter von 34 Jahren ihren damals zwölfjährigen Schüler Vili
Fualaau verführt hatte. Bereits schwanger von Fualaau, wurde sie zu
drei Monaten Haft verurteilt. Sie verstieß nach ihrer Entlassung aber gegen ein
auferlegtes Kontaktverbot und wurde 1997 erneut verurteilt, ehe sie 2004 auf
Bewährung freigelassen wurde. LeTourneau und Fualaau heirateten und
lebten mit ihren mittlerweile zwei Töchtern als Familie zusammen, ehe LeTourneau
2020 an Krebs verstarb.
Todd Haynes begnügt sich nicht damit, die Geschichte des
Skandals einfach nachzuerzählen und aufzuarbeiten, sondern benutzt den
geschickten Kniff einer Person von außen, die nicht nur ein oberflächliches Bild
von der Figur gewinnen will, die sie in einem Film verkörpern soll, sondern die
die richtigen Fragen an die richtigen Leute stellt und darüber hinaus über eine
gute Beobachtungsgabe und ein charismatisches Einfühlungsvermögen verfügt. Julianne
Moore („Wilde Unschuld“, „Still Alice“) verkörpert die
Sexualstraftäterin als eine Frau, die sich nie einer Schuld bewusst gewesen ist
und sich durch die offenbar glückliche Beziehung, die sie immer noch mit Joe führt,
bestätigt fühlt. Allerdings nimmt sie auch die Veränderungen wahr, die die
Anwesenheit der Schauspielerin hervorrufen, und so langsam kommen die leicht
soziopathischen und kontrollsüchtigen Züge zum Vorschein, mit denen sie die ungewöhnliche
Struktur ihrer Familie zusammenzuhalten versucht. Natalie Portman („Black
Swan“, „V wie Vendetta“) steht Moore in nichts nach, gelingt ihr doch die
Transformation zu der Figur, die sie auf der Leinwand darstellen soll, bis sich
Gracie und Elizabeth sogar äußerlich zunehmend einander ähneln. Das hat Todd
Haynes mit sicherer Hand inszeniert, wobei die Bilder von Kameramann Christopher
Blauvelt („Das Verschwinden der Eleanor Rigby“, „Mid90s“) nicht nur
die oberflächliche Familienidylle einzufangen versteht, sondern auch immer
wieder verstörende, verschwommene Momente präsentiert, die deutlich machen,
dass mehr hinter dem verborgen liegt, was die Familienidylle am Wasser zu
versprechen scheint.
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