Mit seinem zehn Filme umfassenden Mammut-Projekt „Dekalog“
(1989), mit dem er die Zehn Gebote thematisierte, erregte der polnischen
Filmemacher Krzysztof Kieślowski bereits internationale Aufmerksamkeit,
ebenso mit seinen beiden daraus auch hierzulande veröffentlichten Filmen „Ein kurzer Film über das Töten“ und „Ein
kurzer Film über die Liebe“ (beide 1988), aber erst mit seiner Trilogie,
die sich der Farben der französischen Flagge und damit den Idealen der
Französischen Revolution - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – annahm, wurde
er wirklich populär. Mit „Drei Farben: Blau“ (1993) gelang Kieślowski
ein vielversprechender Auftakt.
Inhalt:
Nachdem die Bremsen des Autos versagt haben und der Wagen gegen
einen Baum geprallt ist, wacht Julie (Juliette Binoche) als einzige
Überlebende im Krankenhaus auf. Sowohl ihr Mann, ein berühmter Komponist, als
auch ihre Tochter sind bei dem Unfall ums Leben gekommen. Die Beerdigung ihrer
Liebsten verfolgt sie per Live-Stream auf einem kleinen Fernsehempfänger. Nach
ihrer Genesung verkauft sie das Haus, in dem sie mit ihrer Familie lebte, versorgt
die Haushälterin und den Gärtner mit einer lebenslangen Rente und sucht sich in
Paris eine Mietwohnung, nachdem sie im bereits leergeräumten Haus mit Olivier (Benoît
Régent), einem Freund und Mitarbeiter ihres Mannes, der sie seit langem
bewundert, geschlafen hat. In Paris geht Julie einfach ihren Neigungen nach, zieht
ihre einsamen Bahnen im Schwimmbad, genießt Eis und Kaffee in ihrem Stamm-Café
und freundet sich mit einer Hausbewohnerin (Charlotte Véry) an, deren
Job in einem Nachtklub sie in den Augen der Nachbarn untragbar und anrüchig
macht. Noch während sich Julie in ihrem neuen Leben einfindet, hält sie
ausgerechnet die unvollendete Musik „für das Fest Europa“ ihres Mannes davon
ab, endlich mit diesem zu beginnen und ihre Trauer zu vergessen. Als dann auch
noch Olivier sie ausfindig macht und in den Nachrichten von einer letzten
großen Symphonie ihres verstorbenen Mannes die Rede ist, wird Julie wieder in
ihr altes Leben hineinzogen…
Kritik:
Mit dem Auftakt seiner „Drei Farben“-Trilogie setzt sich Kieślowski
mit der Freiheit des Individuums auseinander, nach der Auflösung der Fesseln
durch Beruf und/oder Familie ein im Prinzip selbstbestimmtes Leben führen zu
können. Seine Protagonistin Julie steht nach dem Tod ihres Mannes und ihrer
Tochter am Scheideweg. Klammert sie sich nun nur noch mehr an das, was ihr von
der gemeinsamen Zeit geblieben ist, oder bricht sie alle Brücken hinter sich
ab, um dem Schmerz zu entfliehen? Julie entscheidet sich für die zweite Option.
Sie verkauft ihr Haus und nimmt als Andenken nur eine Lampe mit blauen Steinen
mit, sie vernichtet die angefangene Partitur ihres Mannes, führt ein in sich
zurückgezogenes Leben in einem Pariser Miethaus, geht keiner Arbeit nach. Sie
trauert allerdings auch nicht um ihren Verlust. Sie will nur vergessen, so wie
ihre Mutter, die sie hin und wieder in der Seniorenresidenz besucht, alles
vergessen hat. Doch ganz los lässt sie die Vergangenheit eben doch nicht. Mit Olivier
bleibt ihr nach wie vor eine Verbindung zu ihrem Mann und zu dessen Musik. Und
so sehr sich Julie auch bemüht, kann sie ihr altes Leben doch nicht ganz ablegen.
Kieślowski erzählt „Drei Farben: Blau“ in gemächlichem Tempo und
setzt die titelgebende Farbe sehr bewusst ein, in dem kräftigen Blau, das im
Schwimmbad vorherrscht, in dem funkelnden Blau der Deckenlampe. Der Film
fasziniert durch Juliette Binoches differenzierte Darstellung einer
jungen Frau, die in Paris versucht, aus dem Nichts ein neues Leben anzufangen, und
durch Kieślowskis stilistisches Können, doch fällt es bei dem
distanzierten Ton der Erzählung aus Julies Perspektive schwer, sich in sie
einzufühlen.
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